Was bedeutet “Kind-Ich”? Das “Kind-Ich” beschreibt einen Zustand, in dem die Reaktionen und das Verhalten eines Menschen in bestimmten Situationen kindlich bleiben, obwohl er bereits erwachsen ist. Bestimmte emotionale Wertungen und Zustände sowie Verhaltensweisen, die sich in der Kindheit entwickelt haben, nehmen auch im Erwachsenenalter Einfluss auf das Leben. Oft hängt das zusammen mit ungelösten Problemen und psychischen Verletzungen aus den frühen Lebensjahren eines Menschen.
Dabei ist wichtig zu verinnerlichen, dass wir als Erwachsene die Fähigkeit haben, unsere vergangenen Erfahrungen bewusst wahrzunehmen, zu durchdenken und loszulassen sowie neue, “erwachsene” Verhaltensweisen aufzubauen. Wir können also lernen, anders zu handeln als in der Kindheit, basierend auf unserem Bewusstsein, gesundem Menschenverstand sowie einer notwendigen inneren Stärke und Beharrlichkeit.
In der Psychologie unterscheiden wir drei Ich-Zustände oder Positionen, in denen sich ein Mensch befinden kann, wenn er mit anderen kommuniziert: das “Eltern-Ich”, das “Erwachsenen-Ich” sowie das “Kind-Ich”. Mehr über diese Ich-Zustände können Sie erfahren im Artikel: Kommunikation auf Augenhöhe oder Wie führt man einen „erwachsenen“ Dialog?
Unser “Kind-Ich” kann sich seinerseits in drei Unter-Positionen befinden:
Das rebellische Kind zeigt sich durch “prinzipielle” Unzufriedenheit, Widerstand und Aggression.
Das angepasste Kind neigt zum Unterdrücken eigener Wünsche und zu Resignation, bis hin zur Unterwerfung.
Das natürliche Kind zeigt kreative Energie, drückt impulsiv Freude und Begeisterung aus, genauso aber auch Enttäuschung, Verletztheit oder Wut.
Diese Ich-Zustände oder Positionen werden ausführlich im Buch “EPIC-Kommunikation…” (2025) behandelt, wo konkrete Techniken und Ansätze zur Arbeit mit ihnen beschrieben sind.
Wie heilt man sein “Kind-Ich”?
Der Schlüssel zur Heilung des “Kind-Ich” ist die Entwicklung einer erwachsenen Position, nicht nur altersmäßig, sondern primär in psychologischer Hinsicht. Das erfordert zunächst das Bewusstsein für die eigenen Reaktionen und Handlungen, dann das Verständnis ihrer Ursachen, anschließend die Wahl neuer Verhaltensweisen und -muster sowie schließlich deren schrittweise Entwicklung.
Dabei lässt sich das Grundprinzip konstruktiver Interaktion auf die Arbeit an sich selbst anwenden. Im Folgenden beschreibe ich dessen fünf Schritte mit Bezug auf das “Kind-Ich”.
Schritte zur Arbeit mit dem “Kind-Ich”
1. Wahrnehmen
Der erste Schritt ist das Beobachten und Sich-Bewusst-Machen der eigenen überschüssigen Emotionen und Reaktionen, insbesondere in stressigen oder kritischen Situationen. Hier ist es wichtig, die Momente zu bemerken, in denen man beginnt, sich eher “kindlich” zu verhalten, sei es durch Aggression, Angst oder Verletztheit – in welchen Situationen, bei welchen Themen und mit welchen Menschen.
2. Annehmen
In diesem Schritt geht es darum, vor den eigenen Emotionen und Reaktionen nicht die Augen zu verschließen oder wegzulaufen, sondern sie bewusst anzunehmen, als Teil seiner selbst (erinnern wir uns daran: “Niemand ist perfekt!”). Das gilt für Gefühle wie Enttäuschung, Verletztheit, Angst und andere starke Emotionen sowie die damit zusammenhängenden Verhaltensweisen. Besonders in schwierigen Situationen, in denen kindliches Verhalten offensichtlich wird, ist dies entscheidend.
3. Verstehen
Nach der Bewusstwerdung und dem Annehmen der eigenen überschüssigen Emotionen und kindlichen Verhaltensweisen ist es wichtig zu erkennen, welche der Unterpositionen des “Kind-Ich” am häufigsten auftritt. Ist es das rebellische, das angepasste oder das natürliche Kind? Analysieren Sie, was oder wer und in welchen Situationen genau diese Reaktionen auslöst, und warum Sie darauf mit den gleichen Verhaltensweisen antworten.
4. Schlussfolgerungen ziehen
Betrachten Sie Ihre Reaktionen aus einer sachlichen Perspektive und entscheiden Sie: Gefällt Ihnen, wie Sie in schwierigen Situationen reagieren? Möchten Sie weiterhin so handeln? Oder ziehen Sie es vor, Ihre gewohnten Verhaltensweisen zu ändern?
5. Die BSB-Methode anwenden
Die Methode “Beibehalten-Stoppen-Beginnen” hilft, den Übergang von der Schlussfolgerung zum Verändern des Verhaltens zu gestalten:
Welche von Ihren Verhaltensweisen in schwierigen Situationen wollen Sie beibehalten, da sie Ihnen helfen, mit diesen Situationen als erwachsener, reifer Mensch fertig zu werden und sich prinzipiell positiv auf Ihr Leben auswirken?
Welche konkreten Verhaltensweisen in schwierigen Situationen möchten Sie stoppen, also aufhören zu zeigen, da diese Sie stören, in diesen Situationen als erwachsener, reifer Mensch zu handeln, und sich negativ auf Ihr Leben auswirken?
Welche konkreten Reaktions- und Verhaltensweisen in schwierigen Situationen möchten Sie beginnen, also neu entwickeln, da sie Ihnen helfen, mit diesen Situationen als erwachsener, reifer Mensch umzugehen und Ihre Beziehungen zu anderen Menschen sowie Ihr Wohlbefinden zu verbessern?
Die BSB-Methode lässt sich universell anwenden – in Bezug auf Gefühle, Gedanken, Überzeugungen sowie Verhalten gegenüber anderen und sich selbst.
Beispiel für die Anwendung der BSB-Methode
Situation: In Diskussionen zu relevanten Themen vertritt ein Kollege wiederholt eine andere Meinung als Sie. Sie bemerken, dass Sie darauf aggressiv reagieren und schnell laut werden. Zudem lassen Sie den Kollegen nicht ausreden, weil Sie meinen: “Er wird sowieso nichts Brauchbares sagen, warum also Zeit verschwenden mit leeren Worten?” (wie das rebellische Kind)
Beibehalten: Ihr Verhalten zu beobachten sowie auf Ihre Gefühle und Gedanken zu achten, die zu diesen konkreten Verhaltensweisen gegenüber diesem konkreten Kollegen führen.
Stoppen: Hören Sie auf, aggressiv auf die Aussagen des Kollegen zu reagieren, selbst wenn sie kritische Aspekte beinhalten. Hören Sie ebenfalls auf, den Kollegen zu unterbrechen, denn dadurch nehmen Sie ihm die Möglichkeit, seine Meinung vollständig darzulegen bzw. stören ihn dabei, seine Sichtweise “in einem Guss” zu formulieren. Ein solches Verhalten Ihrerseits stößt kaum auf Gegenliebe, und das möglicherweise nicht nur bei besagtem Kollegen, sondern auch bei anderen.
Beginnen: Entwickeln (trainieren) Sie die Fertigkeit, den Kollegen ausreden zu lassen und gegebenenfalls Fragen zum besseren Verständnis seiner Meinung zu stellen. Entwickeln Sie ebenfalls die Fertigkeit, Ihre Meinung ruhig und konstruktiv auszudrücken. Und schließlich entwickeln Sie die Bereitschaft und Fertigkeit, nach Anknüpfungspunkten oder Gemeinsamkeiten zwischen Ihrer und der Meinung des Kollegen zu suchen.
Fazit
Die Arbeit am “Kind-Ich” ist ein Weg zupersönlichem Wachstum und zur Entwicklung einer reifen, erwachsenen Haltung im Leben, sowohl im Hinblick auf verschiedene “kritische” Themen und Situationen als auch gegenüber anderen Menschen und sich selbst. Dieser Prozess erfordert Achtsamkeit, Geduld und Übung (“Übung macht den Meister!”); er ermöglicht es, kindliche Verhaltensmuster abzulegen und Harmonie in allen Lebensbereichen zu erreichen.
Durch die Anwendung des 5-Schritte-Algorithmus aus dem Grundprinzip konstruktiver Interaktion legen Sie nacheinander gewohnte “kindliche” Verhaltensmuster ab und bauen neue “erwachsene” Verhaltensweisen auf.
Ich empfehle Uhnen, den Artikel zu lesen: Wenn die Beziehung zur Mutter unser Leben negativ beeinflusst. Zum einen finden Sie in diesem Artikel ein weiteres Beispiel für die Anwendung des 5-Schritte-Algorithmus. Zum anderen kann gerade die Beziehung zur Mutter bedeutsam sein für die Arbeit am eigenen Kind-Ich.